Von Leid, Verfolgung und Vertreibung

von Dr. Karl Böhmer

Volker David Kirchner gehörte zu den ersten deutschen Komponisten, die sich in der 1970er Jahren emphatisch der Tradition zuwandten. In Frühwerken wie dem Klaviertrio, einer Hommage an Schumann in Endenich, setzte er Aufsehen erregende Akzente.

 

Bei aller dissonanten Verdichtung und materialbezogenen Schreibweise hat er dem bewegenden Klang stets den Vorrang vor der Konstruktion eingeräumt. In seinen bislang 10 Bühnenwerken verdichtete sich dieser Stil zum dramatischen Tableau. Mit Szenen wie dem Menetekel in "Belshazar" oder der Gutenbergszene in "Ahasver" schuf Kirchner Höhepunkte eines Musiktheaters mit modernen Mitteln. Auf der Bühne wie im Oratorium fasste er die Ängste und Erschütterungen der Menschen im 20. Jahrhundert in erregende Klangbilder.

 

Wie eindringlich diese Bilder wirken, zeigte sich bei Großereignissen wie der EXPO 2000 in Hannover (Gilgamesh) oder beim Katholikentag 1998 (Passion). Raumklangwirkungen spielten dabei eine wichtige Rolle, wie etwa in der doppelchörigen Passion, und immer überschritt Kirchner mit Entschiedenheit die Grenze zwischen religiös inspiriertem Musikdrama, weltanschaulicher Sinfonik und Oratorium. Seine Musik kreist um zutiefst menschliche Themen, oft von religiöser Dimension: um die Stigmata von Leid, Verfolgung und Vertreibung, die Erfahrung des Ausgegrenztseins im Dialog mit Gott. Gebündelt, hat er diese Themen in der Gestalt des ewigen Juden im szenischen Oratorium Ahasver.

 

Es wäre einseitig, Kirchner zum Musikdramatiker zu stempeln. Für ihn selbst bilden Sinfonik und Kammermusik das Zentrum seines Schaffens. Typisch für seine Instrumentalmusik ist eine spezifische Form der Verdichtung des Materials. Meist arbeitet er aus kleinen Motivzellen heraus, die manches Mal Zitate enthalten oder einem orientalisch anmutenden Klageidiom verhaftet sind. Diese werden in konsequenter motivischer Ableitung über die ganze Fläche ausgebreitet bis sie sich zum Aufschrei steigern. Das Abebben in versonnen, tieftraurigen Adagio-Epilogen gehört zu dieser Dramaturgie ebenso wie die Eindringlichkeit der Klagelaute oder das rasend schnelle Scherzo als quasi paranoides Intermezzo. Dabei ist die Klanglichkeit konsequent aus den Instrumenten entwickelt.

 

Kirchner gehört zu den genialsten Komponisten idiomatischer Streicherkammermusik.