Volker David Kirchner im Portrait

Von Wolfgang Birtel


Fragt man nach lebenden Komponistenpersönlichkeiten im deutschsprachigen Raum und sind die ‚Etablierten‘ wie Hans Werner Henze, Aribert Reimann oder Wolfgang Rihm genannt, kommt man schon ins Stocken. Gut, Helmut Lachenmann, Hans Zender, Jörg Widmann, Hans-Jürgen von Bose, Adriana Hölszky will einem, neben dem ein oder der anderen, noch einfallen – doch erst nach etwas Nachdenken: Volker David Kirchner.

Zufall? Oder spiegelt sich da unwillkürlich die Skepsis einer fortschrittsgläubigen Kritiker- und Kollegenzunft wider, denen sich Kirchner mit seinen kunstästhetischen Ansichten und insbesondere mit seiner Sicht von Tradition und Fortschritt verdächtig gemacht hat? Zumal er sich dem avantgardistischen Mainstream auch wortgewaltig in die Quere stellt. Doch, auch wenn er sich damit außerhalb der aktuellen ‚Szene‘ stellt, sich sozusagen aus dem publizistischen Fokus rückt – er bleibt einer der führenden Komponisten Deutschlands der Gegenwart, gehört, wie der amerikanische Publizist D. Friedman schrieb, zu den „interessantesten und außergewöhnlichsten zeitgenössischen Musikern.“

Vita

Volker David Kirchner wurde am 25. Juni 1942 in Mainz geboren, in eine Familie mit langer musikalischer Tradition: So spielte sein Großvater, der ihm die Anfangsgründe des Violinspiels vermittelte, noch in Prag unter Gustav Mahler. Schon mit fünf Jahren erhielt er ersten Violinunterricht, mit acht Jahren komponierte er bereits. Günter Kehr (Violine) und Günter Raphael (Komposition) waren seine Lehrer am Peter-Cornelius-Konservatorium in Mainz, ehe er mit seinem Violinlehrer an die Musikhochschule nach Köln ging. Dort belegte er Kurse bei Bernd Alois Zimmermann und beschäftigte sich mit dem Schaffen von Karlheinz Stockhausen. Nachdem er die Geige gegen die Bratsche getauscht hatte, schlug er eine Laufbahn als Orchestermusiker ein: 1962 als Solobratscher beim Rheinischen Kammerorchester Köln, dann von 1966–1988 als Mitglied des Rundfunk-Sinfonieorchesters (RSO) Frankfurt. Daneben stand die Kammermusik immer im Zentrum seines musikalischen Wirkens: als Mitbegründer des Ensemble 70 in Wiesbaden, im Streichtrio von Günter Kehr, auf dessen Auslandsreisen er sich intensiv mit außereuropäischer Musik beschäftigte. Seit 1972 arbeitete er zudem als Komponist von Bühnenmusiken für das Hessische Staatstheater in Wiesbaden. Hatte er sich lange Jahre dem Reproduzieren von Musik in Orchester und Kammermusikensembles gewidmet, galt seine Passion seit Ende der achtziger Jahre ausschließlich dem Produzieren, also dem Komponieren von Musik. Mit seinen Opern Gilgamesh, ein Auftragswerk der Niedersächsischen Staatsoper anlässlich der EXPO 2000, und Ahasver für das Theater Bielefeld 2001, machte er endgültig national wie international auf sich aufmerksam. Das Philharmonische Quintett Berlin führte im April 2003 sein Bläserquintett Xenion auf, eine Auftragskomposition der Stiftung Berliner Philharmoniker aus Anlass des 15-jährigen Bestehens des Ensembles. Zu den letzten aufmerksam rezipierten Werke zählen beispielsweise das Trompetenkonzert Remember Miles, eine Auftragskomposition der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz aus Anlass des 90-jährigen Bestehens des Klangkörpers, der Liederzyklus Media vita in morte sumus anlässlich eines Festes für Volker David Kirchner der Hochschule für Musik in Mainz, Klavierquintett, Klarinettenquintett oder Streichsextett Wie ein Naturlaut. Fragt man den Musiker nach weiteren Opera, muss er passen – er hat ein wenig den Überblick verloren. Zumal sich die Auftragskompositionen häufen und Volker David Kirchner geradezu in einen Schaffensrausch versetzen. Informationen über gerade abgeschlossene Werke, über neue Projekte und Pläne sprudeln geradezu aus ihm heraus – rastlos, unermüdlich, aber nie oberflächlich, immer ernsthaft, um die Musik und ihre Vermittlung bemüht.

Ehrungen und Preise

Volker David Kirchner wurde mittlerweile mit zahlreichen Ehrungen und Preisen ausgezeichnet: bereits 1974 mit dem Preis des Landes Rheinland-Pfalz für Junge Komponisten (für seine erste Oper Die Trauung), dann mit dem Kunstpreis (1977), mit der Gutenberg-Plakette seiner Heimatstadt Mainz (1992), als erster Preisträger mit dem Musikpreis des Rheingau Musik Festivals (1994), mit dem Kompositionspreis der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und der Kreissparkasse Hannover (1995) und 2007 schließlich mit der Peter-Cornelius-Plakette des Landes Rheinland-Pfalz, der höchsten Auszeichnung des Landes, die „in Anerkennung langjähriger und besonderer Verdienste, die von in Rheinland-Pfalz ansässigen Personen auf dem Gebiete der Musikpflege und Musikschöpfung erbracht wurden“ verliehen wird. Seit 1992 wirkt der freischaffende Komponist auch im künstlerischen Beirat der Stiftung Villa Musica Mainz. Für die Rheinische Streicherakademie im Januar 2004, veranstaltet von der Europäischen Musikakademie Bonn, wurde er als Composer in Residence berufen. Und eine besondere Ehre wurde ihm 2004 zuteil: Zur Eröffnung des renovierten Konzerthauses am Gendarmenmarkt erhielt er eine Auftragskomposition des Berliner Sinfonie-Orchesters: Das siebente Siegel, der dritte Teil eines monumentalen Werkes Angelus novus. Das Besondere der Uraufführung unter der Leitung von Eliahu Inbal war dabei, dass Kirchners Werk unmittelbar vor Beethovens Neunter Sinfonie stand und in diese nahtlos überleitete. Und – wie schon erwähnt – die Auftragskompositionen, ‚Ritterschlag‘ für einen jeden Komponisten, häufen sich.

Werk

Sichtet man den Werkkatalog, stellt man auf den ersten Blick fest: Kirchner hat sozusagen alle Gattungen abgedeckt. Natürlich bilden die Bühnenwerke einen gewichtigen Block, beginnend mit der für das Hessische Staatstheater Wiesbaden geschriebenen Oper Die Trauung (UA 1975), dem Szenisches Requiem genannten Werk Die fünf Minuten des Isaak Babel (UA 1980), Belshazar (UA 1985), Das kalte Herz nach Wilhelm Hauff (UA 1980, Neufassung 1988), dem Elektra-Werk Erinys (UA 1990), Inferno d’amore nach Shakespeare und Michelangelo (UA 1994/1995) und sein wiederum auf Shakespeare fußendes, Monteverdi verarbeitendes Labyrinthos (UA 1997) – sowie die bereits erwähnten jüngeren Werke. Und im Frühjahr 2011 wird am Kieler Theater seine neueste Oper uraufgeführt werden: Savonarola.

Zwei Sinfonien (uraufgeführt 1982 und 1992) stehen neben – mittlerweile – vier Bildnissen und Einzelwerken für großes wie Kammerorchester. Selbstverständlich dürfen solistische Werke nicht fehlen: ein Violinkonzert (UA 1984 durch Ulf Hoelscher), das Nachtstück für Viola und kleines Orchester (UA 1983 durch Bodo Hersen) und ein weiteres Werk für ‚sein‘ Instrument, die Viola, Schibboleth (UA 1990 durch Tabea Zimmermann), aber auch drei Bläserkonzerte: eines für Oboe (UA 1998 durch Fabian Menzel) und eines für Horn (UA 1997 durch Marie-Luise Neunecker), das erwähnte Trompetenkonzert.

Doch Kirchners große Liebe gilt der Kammermusik: Was er wirklich zu sagen hat, bekannte er einmal, sage er in der Kammermusik. Ihr Repertoire hat er mit zahlreichen Opera der verschiedensten Besetzungen bereichert: für traditionelle Besetzungen wie Streichquartett, -quintett, -sextett, Klaviertrio, Klavierquartett, Oktett (in Schubert-Besetzung) und Nonett, klavierbegleitetes Soloinstrument ebenso wie für ausgefallene Ensembles: Exil für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (UA 1995) etwa, Mysterion für Altflöte, Horn, Viola d’amore, Violoncello und Klavier (UA 1986) oder beispielsweise die Nachtmusik für Flöte, Klarinette, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klavier und Schlagzeug (UA 1971 durch Kirchners Ensemble 70).

Nicht zu vergessen seine Vokalmusik: Lieder und Gesänge sowie die monumentaleren Requiem-, Passions- und Mess-Werke: neben dem erwähnten Babel-Requiem noch ein Requiem. Messa di pace (UA 1990), die für Mainz komponierte Missa Moguntina (UA 1993), die Passionsmusik Aus den 53 Tagen (UA 1998), das monumentale Auferstehung (UA 2006) wiederum eine Auftragskomposition, dieses Mal der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur oder sein Liederzyklus Media vita in morte sumus für Sopran, Klarinette, Horn, Klavier, Schlagzeug und Streichtrio. Manches ist fertig und harrt noch der ersten Aufführung, so die für großes Orchester gesetzten Werke Der Bote, ein Notturno, oder Schumanns Rheinfahrt.

Komponist

Gäbe es ein musikalisches Pendant zum ‚Universalgelehrten‘ alten Schlages: Volker David Kirchner wäre der erste Aspirant für eine solche Titulierung. Wer sich mit ihm unterhält, ist erstaunt ob des historischen Hintergrundwissens, der philosophischen Exkurse, ob der Schärfe und Treffsicherheit seiner Beobachtungen, ob seiner Unerbittlichkeit im Urteil bestehender Zustände und Missstände – ein Zug, der ihn fast zum Kulturpessimisten werden lässt. Dieses ‚Kantige‘ und Unangepasste, Kompromisslose und offen Bekennende macht ihn sympathisch und der Kunstszene aber auch verdächtig: kein Wunder, dass er sich selbst als jemand sieht, der „zwischen allen Stühlen sitzt“ – auf dem einzigen Platz aber, „auf dem man ehrlich sitzen kann.“

Verhältnis zur Tradition

Natürlich hat er sich in seiner Kölner Studienzeit mit Zwölftontechniken und Serialismus, vor allem mit Stockhausen und seiner Schule, mit Kagel und mit allem ‚Avantgardistischen‘ auseinandergesetzt – das Erklingende in seiner Materialhaftigkeit seziert. Natürlich hat er all diese Stile ausprobiert, beherrscht und kompositorisch umgesetzt. Doch schon früh entschied er für sich, dass das Material nicht alles sein kann. Was mit dem Material passiert, die Botschaft in der musikalischen Entwicklung interessiert ihn: „Musik, die ohne Botschaft ist, ist für mich keine.“ Fortschritt um jeden Preis kann für ihn kein künstlerisches Motto sein, das Überkommene darf nicht gedankenlos über Bord geworfen werden, ist integraler Bestandteil des musikalischen Erlebens – hier zeigt sich Kirchners Verbundenheit eher mit Gustav Mahler, denn mit den Kompositionskollegen seiner Studienzeit. „Mich beeinflusst, alles was klingt … Komponieren hat nichts mit Ausschließen zu tun, sondern nur mit Eingrenzen“, bekannte er einmal. „Für mich sind vier Jahrhunderte großer Musik ein Kapital. Ich fühle mich, da ich mit Musik lebe, sie als lebende Substanz in mir trage, dazu aufgerufen, sie zu benutzen, da sie für mich quasi den Wert von Vokabeln besitzt.“

Zitate spielen in diesem Prozess – zumindest über lange Zeit hinweg – eine wichtige Rolle, auch wenn sie ihm gelegentlich – bei oberflächlich Hörenden – den Vorwurf des ‚Traditionalisten‘ eingebracht haben. Sie finden sich bei Kirchner jedoch selten wörtlich, sondern als stilistische Zitate, als Metamorphosen, das Überkommene transformierend, als „angenäherte Atmosphären“. Das Neue in seiner Musik, in seinem musikhistorischen Rückbezug liegt in der Interpretation des vorhandenen Materials. Doch die Verwendung der Zitate hat sich mittlerweile gewandelt: Wenn Kirchner sie einsetzt, dann wesentlich stärker verfremdet, so, dass sie als solche nicht mehr wahrnehmbar sind.

Mit seinem Bekenntnis zur Tradition – nicht als Steinbruch für fehlende eigene Kreativität, nicht als eklektizistisches Weiterfahren auf bequemen Bahnen –, mit seinem Respekt vor der Tradition und mit seinem Postulat gegen „Originalitätssucht“ forderte er die Fortschrittsgläubigen heraus, provozierte er geradezu aggressive Attacken. Dies hat seiner ‚Anerkennung‘ und Verbreitung möglicherweise lange geschadet, aber seiner künstlerischen Ehrenhaftigkeit genutzt. Und seine Bedeutung für die aktuelle Musikszene wird deshalb oft von außen her, aus dem Ausland wesentlich deutlicher betont, als es hierzulande üblich ist.

Doch Volker David Kirchner hat diese Anerkennung auch in Deutschland mehr als verdient. Als Musiker, der jahrelang selbst aktiv in Orchestern und Kammermusikensembles musizierte, versteht er zunächst sein musikalisches Handwerk wie nur wenige. Er hat die Musik mehrerer Jahrhunderte sozusagen verinnerlicht, zudem auch die Kultur anderer Länder und Kulturkreise in sich aufgesogen. Doch unterliegt er in seinem Schaffen dabei nicht der Gefahr, all dies sozusagen zu einem universalen musikalischen Konglomerat zusammenfließen zu lassen, nein, es dient immer dem Zweck, mit seiner Musik etwas mitteilen zu wollen, eine Geschichte zu erzählen, Symbole zu entwerfen, einen Mythos lebendig werden zu lassen, Emotionen hervorzurufen.

Themen

Volker David Kirchners Themen, wie sie sich insbesondere in seinen Bühnenwerken zeigen, kreisen immer um Sujets wie Macht und ihren Missbrauch, um Gewalt, Tod und Katastrophen. Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass er 1942 in eine solche Katastrophe hineingeboren wurde. Er selbst attestiert sich eine „Hellhörigkeit oder Sensibilität für Katastrophen“, und man könnte ihn geradezu als ‚Rufer‘ bezeichnen, wenn er die leidvolle eigene Erfahrung zum Thema und auf die immer wieder gleichen Modelle und Mechanismen aufmerksam macht. Er bevorzugt dabei den Rückgriff auf Mythen-Stoffe, um solche Urvorgänge herauszuarbeiten, Mythen, die für Kirchner ohnehin eine besondere Bedeutung zur sinnstiftenden Identität von Völkern haben. „Archaisch“ etikettierte man deshalb gelegentlich seine Opern, der Themen wie auch der Musiksprache wegen. Die neueste Oper kreist wieder um seine zentralen Themen: Die Figur des Florentiner Dominikanerpriors Savonarola ist für Kirchner aktueller denn je, religiöser Fanatismus als Problem auch heute noch wie in der Vergangenheit immer wieder bedrängend: „Savoranola ist der Bin Laden der Renaissance-Zeit.“

Musik

Musikalische Formen geben seinen – oft komplexen – Partituren Halt, strukturieren sie klar und verständlich, liefern ihnen eine allzeit prägnante Faktur. Kirchners Opera gliedern die Zeit präzise, so präzise wie seine klare, aber fast mikroskopisch-winzige Notation. Doch sein Ziel bleibt dabei das „Vermitteln vom Aufheben der Zeit, das Täuschen von Zeit“. Kirchners Musik ist von suggestiver Dichte, Vitalität und Expressivität, kann – wie etwa in seiner Oper Gilgamesh – vom Schönklang bis zum aufrüttelnden, aufschreienden Gestus alles in den Dienst der Aussage stellen. In den kammermusikalischen Werken wetteifert dagegen klangliche Raffinesse mit rhythmisch Agilem, finden sich gestenreiches Melos oder Geräusch, lautstarkes Auftrumpfen und Verstummen in einer bezwingenden und faszinierenden Symbiose, einer effektvollen und plastischen Tonsprache wieder, einer Tonsprache, die facettenreich und kontraststark Wohlbefinden, Verzweiflung wie Wut ausdrücken kann.
Der Klang und die Klangfarbe spielen eine immer wichtigere Rolle: Das Ausleuchten des Farbspektrums, das Schillernde und Changieren von Klangfarben, das Suchen nach neuen, ‚un-erhörten‘ Klängen nimmt einen immer größeren Raum ein. „Ich liebe den Klang“, bekennt denn auch der Komponist im Gespräch. Und je kleiner die Besetzung – so scheint es – desto intensiver wird das Tüfteln am Klang: Mit Vierteltönen, Geräuscheffekten wie sul ponticello, Bartók-Pizzicato oder gezupften Klaviersaiten, aber auch mit ungewohnten Klangkombinationen spürt Kirchner dem Essenziellen der Musik nach, nutzt diese kompositorischen Möglichkeiten jedoch nie als oberflächliche, billige Effekte, sondern als bewusst eingesetzte Ausdrucksmittel. Dafür sind Kirchners neuere Werke in der Form freier geworden; früher spielte die Einbindung in klassische Formen eine größere Rolle, schrieb der Komponist strenger. Heute tritt die Bedeutung der Form – hat man den Eindruck – in ihrer Bedeutung zurück, zugunsten des Klanges eben.
Die Verwurzelung in der Musikgeschichte ist stets zu spüren – doch als bewusste Weiterverarbeitung, Auseinandersetzung und durch neue Elemente sublimiert: zu einer ganz eigenen, individuellen Musiksprache.

Rezeption

Natürlich gab es in den ersten Jahren seines kompositorischen Wirkens Aufruhr: produktiven Aufruhr. Hatte doch der „Avantgardist gegen die Avantgardisten“, so wurde er – erinnert sich Kirchner – einmal bezeichnet, mit seiner Abkehr vom Serialismus bewusst künstlerische Stellung bezogen, gegen den vermeintlichen Fortschrittsgeist. Schon seine Choralvariationen von 1968 brachten mit ihrer von Kirchner als Befreiung empfundenen Abkehr einen kleinen Skandal; einen großen dann 1980 seine Oper Das Kalte Herz – hatte es doch Kirchner gewagt, mit der romantischen Oper ‚Hallodri‘ zu treiben, tauchten hier tatsächlich wahrhaft harmonische Klänge auf, offenbarte sich ein geradezu volkstümlicher Ton.

Das Bild hat sich gewandelt: Zunächst setzen sich ausführende Musiker aus Überzeugung und mit großem Engagement für Kirchners Musik ein und sorgen so für die Verbreitung insbesondere seiner Kammermusik. Die Yale University nimmt sein Quartett für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier Exil ins Konzertprogramm, in Brasilien werden die Mikroludien gespielt. Seine Klaviersonate ist Programmbestandteil einer Russland-Tournee, das Klarinettenquintett wird mehrfach in Italien aufgeführt; natürlich fehlen auch nicht Konzerttermine im benachbarten Ausland, etwa in Österreich, Schweiz, Luxemburg – sie belegen sein internationales Ansehen.
Rundfunk-Essays beschäftigen sich mit Werk und Person des Mainzer Musikers; die Zahl an CD-Einspielungen und Rundfunk-Produktionen nimmt zu. Einige seiner Werke finden sich mittlerweile auf der Liste der Pflichtstücke von renommierten Musikwettbewerben, wie etwa seine Hornkomposition Lamento d’Orfeo. Interpreten wie beispielsweise Ulf Rodenhäuser (Klarinette), Martin Ostertag (Violoncello), das Fauré-Quartett oder das Jean Paul-Trio haben Kirchner-Kompositionen fest in ihr Repertoire aufgenommen.
Und Aufführungen von Werken Volker David Kirchners werden mittlerweile stets mit großem Beifall aufgenommen, mit Applaus der Kritiker, insbesondere der ausländischen im Übrigen, und vor allem aber von den ‚normalen‘ Konzertgängern. Kirchners Musik ‚kommt an‘. Sie vermag dem Publikum etwas zu sagen, wird verstanden und muss sich nicht mit höflich-reservierter Reaktion begnügen. Vorbei die Zeiten, da die Aufnahme eines zeitgenössischen Werkes in ein Konzert-Programm eher Alibi-Charakter hatte („Etwas Modernes ja, aber bitte vor der Pause“): Das Œuvre von Volker David Kirchner hat mittlerweile Eingang in den normalen Konzertbetrieb genommen, ist im Repertoire der Interpreten fest verankert und findet so eine kontinuierliche Verbreitung.

Von „zehnminütigem uneingeschränktem Beifall“ berichtet die Presse anlässlich der Uraufführung von Erinys 1990 beispielsweise. Und wenn alle 18 Vorstellungen seiner Oper Gilgamesh bei der Expo 2000 ausverkauft waren, war dies für eine zeitgenössische Oper, bei der die ‚Premiere‘ allzu oft die ‚Dernière‘ ist, ausgesprochen ungewöhnlich und bewies die intensive Publikumswirkung von Kirchners eindringlicher Ausdruckssprache. Selten auch, wenn dann in der Uraufführungskritik nichts von Buhrufen und ähnlichen Missfallensbekundungen zu lesen ist, sondern von „langem Schlussapplaus“ und „zahllosen Bravorufen“. Bestätigt wurde damit wieder einmal – und nicht nur von der Musikkritik, sondern vom Publikum selbst – das Urteil, das James Helme Sutcliff in der International Herald Tribune bereits in den achtziger Jahren anlässlich der Belshazar-Premiere fällte: „An der Tatsache, dass Kirchner ein Opernkomponist von Format ist, kann es keinen Zweifel geben.“


Essenz

„Für mich ist das Entscheidende, mit Musik Menschen anzurühren, sie anzuregen zuzuhören und über ein Problem nachzudenken.“ Kann es ein schlüssigeres künstlerisches Credo geben? In Volker David Kirchners weltweit gespielter Musik kommen Emotion und Intellekt zu Wort: Sie spielen und wirken zusammen. Man darf dem unkonventionellen Musiker wünschen, dass sich die Ohren auch hierzulande immer weiter für seine originelle Musik öffnen.

(Juni 2010)